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„Ihr müsst Menschen sein“ – Die Geschichte von Margot Friedländer

  • 7. Nov.
  • 8 Min. Lesezeit

Margot Friedländer
Foto: Martin Kraft / Lizenz: CC BY-SA 4.0
 

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer war bis zu ihrem Tod im Mai 2025 eine unermüdliche Zeitzeugin. Ihre Lebensgeschichte steht für Mut, Überleben und die Mahnung, niemals zu vergessen. Für unsere Schule ist ihr Name besonders bedeutsam – sie könnte die neue Namensgeberin unserer Schule werden. Doch wer war Margot Friedländer, und was können wir von ihr lernen?


Wer war Margot Friedländer – und warum ist sie heute wichtiger denn je?

Schon seit mehreren Jahren ist der Namensgeber unserer Schule, Ernst Moritz Arndt, wegen seiner nationalistischen und antisemitistischen Ansichten immer wieder kritisiert worden. Nun steht es fest: Wir wollen einen neuen Namensgeber. Deshalb wurde vor den Sommerferien eine Wahl durchgeführt. Eine der potenziellen neuen Namensgeber:innen: die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer. Doch wer war sie eigentlich und was können wir von ihr und ihrer Geschichte lernen?


Ein behüteter Anfang

Margot Friedländer wurde am 5. November 1921 in Berlin geboren. Ihre Kindheit war gefüllt mit schönen Erinnerungen, vom ersten Tanz mit ihren Cousins zu dem großen Gut am See, in dem sie die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte. Es war ein sehr familienorientiertes, geborgenes Leben. Ihre Mutter, von Margot bis zu ihrem Tod liebevoll „Mutti“ genannt, hatte viele Cousins und Cousinen, die wiederum Kinder hatten. Mit all diesen Menschen wuchs Margot eng zusammen auf.

Vier Jahre nach ihr wurde ihr Bruder Ralph geboren. Laut ihren Worten waren sie komplette Gegensätze: Ralph war ruhig, hochintelligent und sehr sensibel, sie war eher der draufgängerische Typ.

Ihr Vater hatte im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und mehrere militärische Auszeichnungen erhalten. Er war ein sehr stolzer Bürger Deutschlands. So konnte er es zuerst gar nicht glauben, als ihnen als Juden erzählt wurde, sie wären keine richtigen Deutschen. Er hatte noch Vertrauen in seinen Staat und seine Regierung. Doch viele Familienmitglieder sahen das anders, sie hatten Angst und machten sich große Sorgen.1933 fingen dann die ersten Cousins an, aus Deutschland auszuwandern.


Kindheit, der Traum von der Mode und erste Verluste

Mit der Zeit fiel die Ehe von Margots Eltern immer mehr in sich zusammen. Sie ließen sich scheiden, kamen dann aber für die Kinder wieder zusammen. Diese Zeit erlebte Margot als sehr schön. Sie erinnerte sich oft daran mit dem Auto durch die schönen Landschaften zu Cafés zu fahren.

Als sich ihre Eltern dann 1937 endgültig scheiden ließen, zog sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in eine Pension. Nachdem sie mit der Schule fertig war, besuchte sie für ein Jahr eine Mode-Zeichenschule. Dann arbeitete sie für eineinhalb Jahre in einem kleinen Salon, wo sie das Schneidern lernte. Sie wollte eines Tages in der Modebranche aktiv werden.

Von dem Fenster ihrer neuen Pension beobachtete sie, wie in der Kristallnacht jüdische Gebäude in ihrem Umfeld zerstört wurden. Ihr Bruder sollte am Wochenende seine Bar Mitzwa feiern, doch das war nicht möglich, da die Synagoge in Flammen stand. Das war der Moment, als Margot klar wurde: „Wir müssen gehen, wir sind hier nicht mehr sicher.“

Wenig später wurde ihrem Vater sein Geschäft genommen und an jemand anderen verkauft. Um dort die Angelegenheiten regeln zu können, stellte ihm der Staat einen Reisepass zur Verfügung. Diese Gelegenheit nutzte er sofort und flüchtete nach Belgien. Seiner Familie sagte er nichts. Er ließ sie einfach zurück. Margot fühlte sich dementsprechend betrogen und verlassen.


Leben im Untergrund

Ihre Mutter versuchte alles, um sie und Ralph in Sicherheit zu bringen. Vergeblich. Einmal kam die Möglichkeit auf, nach Shanghai zu gehen, dafür brauchten sie allerdings die Genehmigung des Vaters. Doch als Margots Mutter ihn anschrieb, antwortete er lediglich mit: „Was willst du mit den Kindern in Shanghai? Verhungern kannst du auch in Berlin.“ Auch eine weitere Chance in Brasilien fiel ins Wasser.

Da sie die Pension dann verlassen mussten, lebten sie bis 1941 bei ihrer Oma. Dann kamen sie bei einer netten Frau, Frau Meißner, unter. Frau Meißners Familie wurde zwei Monate vor der Kristallnacht nach Polen abgeschoben, sie hatte seitdem nicht mehr von ihnen gehört. Die zwei Jahre, die Margots Familie dort verbrachte, waren sehr prägend und ereignisreich.

Nachdem Margot ihre Stellung im Salon verlor, war sie beim Jüdischen Kulturbund. Sie arbeitete als Schauspielerin. Im Kulturbund traf sie auch zum ersten Mal auf Adolf Friedländer, den sie später heiraten würde. Sie kannten sich, kamen gut miteinander aus, aber waren nicht befreundet.

Dann wurde Margot zum Arbeitsdienst gerufen, sie stellte kleine Apparate für Flugzeuge her. Oft kam sie erst um 6.30 Uhr morgens nach Hause, da sie die Nachtschicht arbeitete.

Die Zeiten wurden immer schwerer und schwerer, mehrere Male wurden Juden vom Kulturbund inhaftiert. Ein junger Mann tauchte für ein paar Tage bei ihnen unter. Da wurde ihnen klar, dass das vielleicht auch irgendwann eine Möglichkeit für sie sein könnte.

Eines Tages im Januar 1943 kam Margot später als normalerweise nach Hause. Sie bemerkte einen komischen Mann, der vor ihr ins Haus ging. Sie dachte sich schon, „sei lieber vorsichtig“, und versteckte ihren Judenstern mit ihrer Handtasche. Dann klingelte sie bei den christlichen Nachbarn, die ihr alles erzählten:

Vor mehreren Stunden schon hatten sie lautes Poltern gehört, dann hatten sie gesehen, wie ihr Bruder, Frau Meißner und eine ihnen unbekannte Frau in einen Polizeiwagen gestoßen wurden. Als Margots Mutter etwa eine Stunde später zurückkam, entschloss sie sich, sich freiwillig zu stellen. „Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag, versuche dein Leben zu machen,“ diese Worte ließ sie ihrer Tochter ausrichten. Außerdem hinterließ sie Margot ihre Bernsteinkette und ein kleines Büchlein mit Adressen und Telefonnummern von Reisebüro und Freunden im Ausland. Margot schaffte es diese beiden Gegenstände durch mehrere Untergrundsaufenthalte und durchs Konzentrationslager zu schmuggeln, all die Jahre blieben sie eng bei ihr.

Foto: Thomas Quine /Lizenz: CC BY-SA 2.0
Foto: Thomas Quine /Lizenz: CC BY-SA 2.0

An dem Abend nach der Festnahme ihrer Familie lief Margot allein die Berliner Straßen hinunter, sie fragte sich: „wo gehe ich hin, wo schlafe ich heute?“ Sie kam bei Freunden vom Kulturbund unter, das waren ihre ersten Nächte im Untergrund.

Mit gefärbten Haaren, sie wollte anders, „weniger jüdisch“, aussehen, ging sie zu ihrer Tante. Tante Anna war christlich, aber war mal mit einem Juden verheiratet gewesen. Margot erklärte ihre Situation und bat um Hilfe, doch sie sagte nur: „Wenn du deiner Mutter nicht helfen willst, kann ich dir auch nicht helfen.“ „Aber wie könnte ich meiner Mutter helfen, sie ist bei der Gestapo“, Margot verstand das nicht. Tante Anna antwortete düster: „Indem du mit ihr gehst.“ Das erschreckte Margot, sie erklärte ihr, die Worte „Versuche, dein Leben zu machen“ hätten eine Bedeutung.


Theresienstadt und das Überleben

Von diesem Tag an tat sie genau das, sie ging weg von ihrer Tante und versuchte, im Untergrund so gut wie möglich zu überleben. In dieser Zeit halfen ihr viele Menschen. Das waren gute, selbstlose Menschen, sie gaben Margot Hoffnung, dass es Gutes in der Welt gibt, dass sich alles in Ordnung bringen lässt. Dafür war sie ihnen unendlich dankbar.

Bei einem Fliegerangriff im Jahr 1944 wurde Margot auf dem Weg zum Bunker abgefangen und musste sich ausweisen. Das konnte sie nicht und so wollte man sie vorerst mitnehmen. In ihrer Verzweiflung erzählte sie ihnen, dass sie Jüdin war, mit der Hoffnung, sie würden Mitleid haben und ein Auge zu drücken. Doch dann war es erst recht vorbei für sie.

Sie deportierten Margot ins Konzentrationslager Theresienstadt. Zuerst lebten sie in heruntergekommenen Häusern, kein fließendes Wasser, keine Toilette im Gebäude, usw. Es war ein elendes kleines Dorf, bewohnt von lediglich ein paar alten Leuten, die nur noch darauf warteten, dass das Leben langsam aus ihnen raus fließ. Eigentlich waren die Kasernen für die Männer, doch auch sie lebten da, mit 12-16 Menschen pro Zimmer.

Sie mussten hart arbeiten, hunderte von Frauen stellten Tag und Nacht kleine Glimmerplättchen her. Es war ein schwieriges Handwerk, man musste sehr geschickt dafür sein. Jeden Tag kam die SS, wog ihre Arbeit und dokumentierte, wie viel jede Arbeiterin herstellte. Margot war eine gute Glimmerin, doch nicht jeder hatte dieses Glück. Wer nicht genug leistete, wurde in den Osten (nach Ausschwitz) geschickt. „Der Osten“, das wurde ihnen jeden Tag erzählt, aber niemand wusste so Recht, was es eigentlich damit auf sich hatte. Es war ja nicht so, als würde jemand von dort zurückkommen, um es ihnen zu erzählen.

Im Januar 1945 kam ein Transport nach Theresienstadt, dabei war auch Herr Friedländer vom Kulturbund. Von da an blieben Margot und er zusammen, es war gut sich an etwas Bekanntes halten zu können.

Dann, kurz bevor Ausschwitz, das größte Konzentrationslager, befreit wurde, kam ein weiterer Transport an, diesmal aus dem berüchtigten Osten. Die Menschen fielen praktisch aus dem Laster, man konnte kaum erkennen, wer tot und wer noch knapp am Leben war. Sie hatten einen Todesmarsch hinter sich. Bei einem Todesmarsch wurden die Menschen gezwungen sehr lange Strecken zu laufen, in der Hoffnung, dass sie dabei sterben. Unter ihnen war auch ein Sänger vom Kulturbund, welcher Margot zum ersten Mal von Ausschwitz erzählte. Da wusste sie, dass sie ihre Mutter und ihren Bruder nicht mehr wiedersehen würde.

Einige Zeit danach wurde auch Theresienstadt befreit und die Menschen dort wurden alle mit der Zeit abgeholt. Doch Margot und Herr Friedländer blieben bis Juni 1945 und noch bevor der letzte Rabbiner abreiste, ließen sie sich dort, im aufgelösten Konzentrationslager, trauen.


Ein neues Leben in New York

Beide hatten niemanden, zu dem sie zurückkehren konnten, und so beschlossen sie, gemeinsam zu Herr Friedländers Schwester nach New York zu ziehen und ein neues Leben anzufangen. Sie fanden ein schönes kleines Zimmer und Margot fing direkt an zu arbeiten, zuerst 20 Jahre in verschiedenen Bereichen der Modebranche, dann weitere 20 Jahre in Reisebüros. 1958 kehrten sie zum ersten Mal wieder nach Europa zurück und mit der Zeit wurden ihre Besuche immer häufiger, oft mehrmals im Jahr. Doch nach Berlin gingen sie nie, das war für ihren Mann zu schmerzhaft.

Herr Friedländer und Margot hatten ein tiefgründiges Verständnis füreinander, sie teilten das gleiche traumatische Erlebnis. Wenn einer der beiden sagte: „Mir geht es heute nicht gut, ich kann das heute nicht“, wusste der andere genau, was gemeint war. Vielleicht war es keine Liebe – Margot meinte, in solch einem Zustand wäre man gar nicht dazu im Stande gewesen. Doch mit der Zeit hat sich sicherlich eine tiefe Freundschaft zwischen dem Ehepaar geformt.


Zurück nach Berlin – die Erinnerung und das Schreiben

Der Tod ihres Mannes 1997 markierte ein neues Kapitel in Margots Leben. Zu dieser Zeit nahm sie in einem Seniorenclub an einem Kurs im kreativen Schreiben teil, dort bekam sie die Idee ein Buch über ihre Geschichte zu schreiben. Das tat sie dann auch, mit dem Ziel, die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren und Menschheit und Toleranz zu fördern, damit so etwas nie wieder passiert. Ihr Buch „Versuche, dein Leben zu machen“ wurde 2008 veröffentlicht, den Namen bekam es von den letzten Worten ihrer Mutter zu ihr.

2003 besuchte sie das erste Mal seit über 50 Jahren wieder Berlin. Die USA hatten ihr nichts bedeutet, sie fühlte sich nie, als würde sie dort hingehören. Deshalb kehrte sie auch 2010 vollends nach Berlin zurück. Trotz all der schlechten Erinnerungen war die deutsche Hauptstadt einfach ihre Heimat, sie war Deutsche und sie war Berlinerin.

Bis sie mit 104 Jahren am 9. Mai 2025 starb, leistete sie wertvolle Arbeit als Zeitzeugin, sie nahm an zahlreichen Messen, Lesungen und Interviews teil. Aber vor allem engagierte sie sich durch ihre regelmäßigen Besuche an Schulen, bei denen sie Schülern ihre Geschichte erzählte, ihre Fragen beantwortete und ihre Botschaft verbreitete:

Niemals dürfen wir vergessen, was damals passiert ist, niemals darf so etwas nochmal passieren! Die letzten Zeitzeugen dieser Zeit werden schon bald nicht mehr am Leben sein, um von ihren Erfahrungen zu berichten, also muss unsere Generation, wir als junge Menschen, als „Zweitzeugen“ agieren und dafür sorgen, dass auch die Generationen nach uns gut über den Holocaust informiert sind.

Margot warnte immer wieder vor rechtsextremen Parteien wie der AFD. Wenn sie sich in manchen Ecken Deutschlands umguckte, machte sie sich große Sorgen. „So hat es damals auch angefangen“, sagte sie.

Für sie stand immer die Menschlichkeit eines jeden Menschen im Vordergrund. "Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut, es gibt nur menschliches Blut." Und deshalb ist es wichtig, dass wir alle Menschen sind.

 

„Ich spreche für die, die nicht sprechen können. Und das sind nicht nur die 6 Millionen Juden, ich spreche für alle, die man umgebracht hat, die gelitten haben.“

 

„Die Demokratie muss bleiben, ihr müsst Menschen sein“

 

 Von Anouk (Jg. 8)



Quellen:



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